Sozialunternehmertum in Deutschland: Ein Blick auf die Arbeit des Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland
Birgit ist von Anfang an bei SEND dabei und engagiert sich seit drei Jahren hauptamtlich für das Netzwerk. SEND hat das Ziel, Sozialunternehmen zu vernetzen und ihnen mehr Sichtbarkeit zu verschaffen. Gleichzeitig setzt sich das Netzwerk für die Verbesserung der Rahmenbedingungen für Social Startups und Unternehmen ein. Birgit betont, dass es in politischer, finanzpolitischer und rechtlicher Hinsicht und auch in der Gründungsberatung noch Defizite für Sozialunternehmen gebe.
SEND setze viele verschiedene Projekte um, um die Rahmenbedingungen zu verbessern, von denen Brigit uns erzählt. Dazu gehören „SEND-Dorf“ Veranstaltungen, bei denen Mitglieder zusammengebracht und informiert werden, sowie ein großer Slack-Kanal, in dem sich Mitglieder nach Region oder Themen zusammenschließen können. Es gebe auch Regionalgruppen, bei denen Mitglieder ehrenamtlich aktiv seien. Auf politischer Ebene stehe SEND im Austausch mit Landes- und Bundespolitikerinnen und -politikern. Ein wichtiger Meilenstein sei die Schaffung einer ersten allgemeine Arbeitsdefinition von Social Entrepreneurship, die es zuvor nicht in Deutschland gegeben habe. Diese sei gemeinsam mit den Mitgliedern erarbeitet worden. Da es keine Definition von Social Entrepreneurship in Deutschland gegeben habe, wurden auch keine Datenerhebungen rund um das Thema durchgeführt. SEND habe den Deutschen Social Entrepreneurship Monitor ins Leben gerufen, um ein besseres Bild von Social Entrepreneurship in Deutschland zu bekommen. Die Vorbereitung von Gründungsberatungen, um spezielle Fragen von Social Entrepreneurs zu beantworten, gehöre ebenfalls zur Arbeit von SEND.
„Social Entrepreneurs wollen vor allem unternehmerisch tätig sein, nicht um maximal Gewinn zu erwirtschaften oder ein Einkommen zu haben, sondern um eine gesellschaftliche Herausforderung lösen“, beschreibt Birgit. Dabei gehe es auch darum, Wirtschaft neu zu denken bzw. darum, Themen, die eigentlich nicht in der Wirtschaft verankert sind, mit einem unternehmerischen Gedanken zu verknüpfen. „Wie kann man Wirtschaft so machen, dass es nicht wehtut, sondern vielleicht sogar hilft und heilt?“. Dass man sich für soziale Themen engagiert, damit aber auch seinen Lebensunterhalt verdienen möchte, werde in Deutschland noch sehr verurteilt, beschreibt Birgit. Die neue Sichtweise auf Unternehmertum und soziales Engagement verändere auch die Sicht darauf, was die persönlichen Anforderungen und Erwartungen an einen Job sind. Für viele eröffne diese Sichtweise neue berufliche Perspektiven. Nicht zuletzt könne Sozialunternehmertum auch ein Lösungsansatz für die Problematik des Mitgliederschwunds in Vereinen und bei ehrenamtlichen Aktivitäten darstellen.
Oft bewegen sich Sozialunternehmen zwischen Gemeinnützigkeit und gewerblicher Ausrichtung, was in vielen Regularien noch nicht so vorgesehen sei. Dies stelle zum Beispiel im Bereich der Finanzen eine Problematik dar, da es für Unternehmen, die nicht rein auf die Gewinnmaximierung fokussiert sind, schwerer sei, Kredite zu bekommen. Auf der anderen Seite sei es auch schwieriger, sich für Fördermittel zu bewerben, wenn der unternehmerische Aspekt mitbedient wird. Insofern müssten Regularien von ganz oben geändert werden, stellt Birgit heraus. Um das zu erreichen, müsse die Wertigkeit von Sozialunternehmertum auf politischer Ebene verändert werden und zum Beispiel Finanzierungsinstrumente geöffnet und öffentliche Vergaben nach entsprechenden Kriterien bewertet werden.
Birgit ist Projektleiterin des „Sozialinnovator Hessen“-Programms, welches vom hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen finanziert wird. Es ist das erste Programm seiner Art in Deutschland, das von einem Landesministerium finanziert wird. Das Programm wurde im Jahr 2020 ins Leben gerufen und bietet verschiedene Unterstützungsmaßnahmen für Social Startups an. Unter anderem liege der Fokus auf der Gründungsberatung sowie der Integration von Social Entrepreneurship in andere Gründungsinstitutionen wie Hochschulen und Industrie- und Handelskammern. Ziel sei es, die Institutionen zu sensibilisieren und das Thema Social Entrepreneurship fest in ihre Gründungsbüros und Beratungsdienste zu integrieren. Aber auch Coworking-Plätze, begleitende Gründungsberatung sowie externe Fachberatung in Bereichen wie Recht, Steuern und Marketing zählen zu den Maßnahmen.
Birgit berichtet uns, dass das Programm gut angenommen werde. In den ersten 2 ½ Jahren seien es rund 300 Teilnehmer und Teilnehmerinnen gewesen, die die Unterstützung in Anspruch genommen haben. Ein festes Curriculum gebe es nicht, es richte sich ganz nach dem Bedarf der Gründerinnen und Gründer. „Die Intensität und die Reifegrade, mit denen die Leute zu uns kommen, sind total unterschiedlich“. Gerade das unterscheide das Programm aber auch von anderen, da es keine Grenzen, wie etwa einer Altersgrenze, gebe. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen, wie zum Beispiel den Gründungsbüros der Universitäten bzw. den Inkubatoren, funktioniere es gut. Dabei versuchen sie, die Institutionen und die jeweiligen Gründungsbüros zu befähigen, die Beratungen eigenständig durchzuführen, damit die Beratung immer weiter dezentralisiert wird.
Einige erfolgreiche Projekte, die sie während ihrer Zeit bei SEND beobachtet hat, nennt Birgit uns. Eines davon ist „Stitch by Stitch“, ein Modelabel aus Frankfurt, das Modedesignerinnen, Näherinnen und Schneiderinnen mit Flucht- und Migrationshintergrund die Möglichkeit gibt zu arbeiten, auch wenn ihre entsprechenden Qualifizierungen und Ausbildungen für diese Berufe in Deutschland nicht anerkannt werden. Ein weiteres Startup namens „Talking Hands“ erleichtert das Lernen von Gebärdensprache für Kinder mit und ohne Behinderung und hat 2021 den 1. Platz beim Frankfurter Gründerpreis gewonnen. Darüber hinaus nennt Birgit "Laufen macht glücklich", das Laufevents für soziale Zwecke veranstaltet, sowie "Ankaadia", die eine digitalisierte Plattform für die Anwerbung und Integration von Pflegekräften aus dem Ausland erstellt haben. „Das ist für mich die ganz große Kunst, also diese Sachen dann zu vereinbaren, den sozialen Aspekt, den integrativen Aspekt, den ökologischen Aspekt und trotzdem unternehmerisch tätig zu sein. Vor sowas ziehe ich den Hut, weil es wirklich extrem schwierig ist, das in ein gutes tragfähiges Modell zu bringen“.
Birgit sei selbst durch eine persönliche Krise auf das Thema Social Entrepreneurship aufmerksam geworden, erzählt sie uns. Nachdem sie fünf Jahre in der Logistikbranche gearbeitet und ein Burnout erlebt habe, traf sie auf Michael Wunsch, der sie für das Thema begeisterte und die Idee von einem Verband hatte. Mit einer Gruppe aus Leuten wurde dann Stück für Stück SEND gegründet. „Dass wir dann wirklich irgendwann mit der Bundespolitik über Gesetzesentwürfe sprechen, das hatte ich damals noch nicht auf dem Schirm.“
